Ein Haus erzählt: Familiengeschichten vom Flumberg

Wie alt ich bin, weiß ich nicht genau. Meine Erschaffung liegt so weit zurück, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Einige Ereignisse hier auf dem „Flumberg“ in Bodenrode im Eichsfeld sind mir jedoch in Erinnerung geblieben.

Vor ihrem Haus: Mutter Dorothea Schneider mit Anna, Josef und Alfred

1928 wohnte Anna Schneider mit ihrer Mutter bei mir

Heute würde man sagen, ich war damals ein Doppelhaus. Man kann das noch an den zwei Gewölbekellern erkennen. Anna Schneider war 28 Jahre alt und ledig. Eines Tages brachte sie einen 32-jährigen Mann mit, der erst vor wenigen Wochen seine Frau Theresia verloren hatte. Sie war einen Tag nach der Geburt ihres vierten Kindes in Heiligenstadt verstorben, was damals gar nicht selten vorkam.

Der junge Mann hieß Karl Gutbier. Er war der Vater der zweijährigen Martha und der vierjährigen Katharina. Nach dem Tod seiner Frau hatte er die Mädchen bei verschiedenen Verwandten untergebracht, da er als Eisenbahner im Schichtdienst fast ständig unterwegs war. Seinen erstgeborenen Sohn Heinrich hatte er bereits verloren; er wurde mit vier Jahren von einem Lastwagen in Heiligenstadt überfahren.

Anna war tief berührt von Karls Schicksal und dem der beiden Mädchen

Karl durfte immer öfter zu Besuch kommen, und schließlich schlug sie ihm vor, zu heiraten. Dann könnte er mit den Kindern in ihre Haushälfte einziehen. Karl willigte sofort ein, da er seine Töchter schnell wieder bei sich haben wollte. Die Hochzeit fand am 26. Januar 1929 in Bodenrode statt. Anna hieß nun Gutbier, und ab diesem Tag war viel Leben im Haus. Annas Mutter war jedoch nicht begeistert, dass ihre Tochter einen Witwer heiratete. Außerdem kannte sie den Mann ja erst wenige Monate. Ihre Haushälfte war klein, und sie teilten sich die Küche, sodass sie das neue Leben hautnah miterlebte.

So etwa sah der Küchenherd aus. Bild: Museum des Heimatvereins Hörde & Andreas Brücher; Lizenz: CC BY-NC-SA

Karls Tochter Martha, die er als Zweijährige in eine fremde Familie geben musste, hatte in den wenigen Monaten offenbar beängstigende Erlebnisse gehabt. Sie war schüchtern und zurückhaltend, und immer anders, als man es von ihr erwartete. Dazu kam eine extreme Hautempfindlichkeit, und sie hatte fast immer einen Ausschlag. Obwohl Martha nicht ihr eigenes Kind war, kümmerte sich Anna hingebungsvoll um die beiden von Karl mitgebrachten Kinder.

Am 27. Februar 1930 bekamen Anna und Karl ihren Sohn Josef Gutbier. Eineinhalb Jahre später, am 7. Oktober 1931, wurde Karola Gutbier geboren, und gut fünf Jahre später, am 8. März 1937, kam Heinrich Gutbier zur Welt. Annas Haushälfte wurde nun von sieben Personen bewohnt – von zwei Erwachsenen und fünf Kindern!

Die sieben Personen mussten ernährt werden.

Mit dem Eisenbahnergehalt konnte Karl die nötigen Lebensmittel nicht kaufen. Die Weltwirtschaftskrise wurde nun schon seit 1929 immer schlimmer. Preise stiegen in utopische Höhen. Auf dem Land war damals Selbstversorgung üblich. Man hatte hier einen Obst- und Gemüsegarten, ein paar Hühner und vielleicht auch Schweine, eine Ziege oder eine Kuh. So war es auch bei Anna und Karl. Neben mir, dem Haupthaus, gab es eine Scheune, einen Hühnerstall, einen Ziegenstall und zwei Schweineställe. Im Garten standen Apfel- und Kirschbäume sowie Stachel- und Johannisbeersträucher. Große Gemüsebeete waren auch angelegt.
Fast alles ist auch heute noch zu sehen, nur ohne die Tiere.

Das war viel Arbeit für meine Bewohner! Die Tiere wollten das ganze Jahr über gefüttert werden, das Futter musste herangeschafft und die Ställe ausgemistet werden. Das war hauptsächlich Annas Aufgabe. Sobald die Kinder mithelfen konnten, wurden sie selbstverständlich auch eingeteilt. Die zwei Schweine brauchten mehr Futter, als im Garten wuchs. Anna und Karl besaßen dafür ein Ackerfeld am Ortsrand, auf dem sie Kartoffeln und Runkeln anbauten. Säen, Unkraut jäten und ernten – alles wurde in Handarbeit erledigt, da ihnen keine Landmaschinen zur Verfügung standen.

Karl war als Eisenbahner viel unterwegs

Deshalb konnte er sich der Arbeit auf dem Hof meist entziehen. Karl ist ja in Heiligenstadt groß geworden. Ein Stadtkind also. Aber er war ein Vogelliebhaber. Im Wald stellte er Vogelfallen für Singvögel auf. Die gefangenen Vögel sperrte er in seinen Vogelbauern auf dem Küchenschrank ein, um sie jederzeit beobachten zu können.

Der Rest der Familie war vom Frühling bis zum Herbst mit Säen, Jäten und Ernten beschäftigt. Vorräte mussten ausreichend für die Winterzeit produziert und gelagert werden. Kaninchen und Hühner mussten geschlachtet werden, wenn ein Feiertag anstand.

Zweimal im Winter war großer Schlacht-Tag. Je eines der Schweine, die das ganze Jahr über einzeln in dunklen Verschlägen gehalten wurden, wurde auf den Hof geführt, betäubt und auf eine Leiter gebunden an die Wand gelehnt, damit man das Blut auffangen konnte. Der Schlacht-Tag war immer mit vielen Helfern verbunden. Alles vom Schwein wurde verwertet, als Wurst oder eingekocht. Das war sehr viel Arbeit. Schnell gehen musste es auch: Der Feldkieker ist eine eichsfeldische Wurst-Spezialität, die „schlachtwarm“ verarbeitet werden muss. Und am Ende des Tages – eigentlich in der Nacht – mussten dann alle Helfer noch mit einem Schlachte-Essen versorgt werden. Die Schlacht-Tage waren immer sehr stressig für meine Bewohner.

Meine Erdkeller ersetzten den Kühlschrank

Erdkeller als Vorratskeller

Zum Aufbewahren von Obst und Gemüse  nutzten sie einen meiner beiden Erdkeller mit Ziegelsteingewölbe und gestampftem Lehmboden. Die Temperatur dort ist ganzjährig konstant kühl. An beiden Kellerseiten habe ich kleine Lüftungsöffnungen, die für einen guten Luftaustausch sorgen. Meine Erbauer kannten damals noch keinen Kühlschrank, der Erdkeller war ihre wirkungsvolle und stromlose Alternative. Ich bin stolz, gleich zwei davon zu haben!

Während die Kinder zu Jugendlichen wurden, mussten alle den Zweiten Weltkrieg irgendwie überleben. Durch die Lebensmittel-Selbstversorgung brauchte auch keiner Hunger leiden. Und glücklicherweise kam keiner meiner Bewohner zu Tode. Aber so richtig wollte danach niemand von der Kriegszeit berichten. Ich kann mich auch kaum noch daran erinnern.

1949: Tochter Martha flüchtet ins Kloster

Martha Gutbier litt unter ihren unglücklichen Kindheitserfahrungen seit dem Verlust ihrer leiblichen Mutter, den sie mit zwei Jahren erlebte, und der vorübergehenden Unterbringung in einer fremden Familie. Sie war immer eine Außenseiterin, der man wenig zutraute.

Einmal im Jahr kamen katholische Prediger im Rahmen der „Volksmission“ nach Heiligenstadt, auch um für den Klostereintritt zu werben. Für Martha war das eine Chance, ihrem Umfeld zu entkommen und woanders neu anzufangen. Nur war dieses Kloster in Westdeutschland. Sie musste also die Grenze aus der sowjetischen Zone überqueren. Das ging zunächst schief, wie sie selbst berichtete. Jedenfalls durfte sie niemandem vorher davon erzählen. Anna und Karl verloren wieder eines ihrer Kinder, diesmal hinter dem „Eisernen Vorhang“.

1950: Tochter Katharina heiratet und zieht aus

1949, lernte Karls älteste Tochter Katharina auf ihrer Arbeitsstelle, dem Fernmeldeamt Heiligenstadt, den Siemens-Fernmeldemonteur Werner Pape aus Berlin kennen. Sie war als „Fräulein vom Amt“ für das händische Verbinden von Telefonanschlüssen am sogenannten „Klappenschrank“ zuständig. Er hatte den Auftrag, eine Erweiterung der Vermittlungsstelle zu realisieren. Schnell freundeten sich beide an. Schon bald fasste die 25-jährige „Käthi“ den Entschluss, Werner zu heiraten.

Da gab es jedoch ein Problem: Werner war evangelisch. Das passte ihrem katholischen Vater Karl ganz und gar nicht. Im streng katholischen Eichsfeld war das undenkbar. Und dann wollte sie auch noch in die berüchtigte Großstadt Berlin zu ihrem Werner ziehen. Ich habe nur mitbekommen, dass es viel Streit darum gab. Schließlich setzte sich Käthi durch. Die Hochzeit fand am 28. Januar 1950 in Bodenrode statt, und gleich danach zog sie mit Werner nach Berlin. Ich weiß nur noch von einigen Reisen, die Anna und Karl zu ihrer Tochter nach Berlin machten. Anna freute sich immer besonders auf ihre Berlin-Besuche.

1952: Sohn Josef stirbt

Josef, das erste gemeinsame Kind von Anna und Karl, war als Bergmann in einem Bergwerk im Erzgebirge beschäftigt, als im Oktober 1952 die Nachricht ins Haus kam, dass er bei einem Grubenunglück gestorben sei. Das war das dritte verlorene Kind von Karl Gutbier, der auch den Tod seiner ersten Frau Theresia verkraften musste. Josef wurde nur 22 Jahre alt.

1959: Tochter Karola zog auch aus

Tochter Karola hatte den Tischlermeister Rudolph Poppe in Heiligenstadt kennengelernt. Sie heirateten am 20.8.1959. Danach zog sie zu ihm nach Heiligenstadt. Da Heiligenstadt aber nur 6 km von Bodenrode entfernt ist, blieb sie für Anna und Karl noch in erreichbarer Nähe.

Sohn Heinrich blieb, verschwand aber 1955 für zwei Jahre über die Grenze

Ihr letztes Kind Heinrich wohnte noch bei mir im Haus. Er hatte eine Tischlerlehre gemacht und bekam den Tipp, dass man als Tischler in Westdeutschland ganz anders arbeiten könne. Das ließ ihn nicht ruhen, bis er 1955 – wie seine Schwester Martha – „über die Grenze machte“, um in Kamp-Lintfort bei einem Tischler anzufangen. Dort war er ganz allein auf sich gestellt. Alle Bekannten waren noch in der DDR oder in Berlin. Irgendwie packte ihn das Heimweh, sodass er nach zwei Jahren wieder nach Bodenrode zurückkehrte.

Er entdeckte seine künftige Frau ganz in der Nähe. Ingeburg Funke wohnte auf dem „Funkenberg“ in Bodenrode, auch in einem alten Fachwerkhaus. Die beiden heirateten und wohnten dann zusammen bei mir im Haus mit Anna und Karl. Das  war überhaupt nicht einfach für das junge Paar. Viel Platz war ja nicht. Jeder kochte für sich – in der einen Küche. Es gab auch nur ein Bad, was morgens oft zu Unmut führte.

Eines meiner Zimmer nannten sie die „kalte Pracht„. Das war die gute Stube, die nur zu besonderen Anlässen genutzt und beheizt werden durfte, sonst nie. Das war damals auch in den Nachbarhäusern so üblich, ein Repräsentations-Zimmer für Feste frei zu halten. Erst sehr viel später fiel ihnen auf, dass sie sich das Leben leichter machen, wenn sie den großen Raum ständig nutzen.

Es blieb aber eng in dem Haus für die zwei Familien

Inzwischen gab es auch zwei Kinder von Ingeburg und Heinrich: Karin und Ute. Die beiden Mädchen hatten ein gemeinsames Schlafzimmer im Obergeschoß. Das war ungeheizt. Nur wenn im Winter  unten geheizt wurde, dann war wenigstens der Schornstein warm, an dem sie sich dann die Füße wärmten. Wenn es richtig kalt wurde, dann fror der Atem an der Bettdecke fest.

In dem kleinen Zimmer standen die zwei Betten für die Kinder – und der Kleiderschrank von Anna Gutbier. Immer Sonntags, wenn die beiden länger schlafen wollten, kam ganz ganz zufällig Oma Anna, um irgendetwas aus ihrem Schrank zu holen. Das war auch immer zu einer Zeit, dass es noch für den Kirchgang der Kinder reichte.

1972: Mein schlimmstes Jahr

Vor vielleicht 200 Jahren bin ich als Fachwerk-Doppel-Haus mit lehmverputzen Gefachen hier auf dem Flumberg entstanden. Ich fand mich eigentlich noch ganz gut im Schuss. Aber besonders Heinrich fand, dass mein Fachwerk nicht mehr zeitgemäß ist. Er träumte von einem Steinhaus. Karl hatte das immer abgelehnt. Nachdem Karl 1972 verstarb, besprach Heinrich seine Umbauwünsche mit dem Berufsschullehrer Franz Kastner. Der macht ihnen den Vorschlag, die Außenwände mit gemauerten Wänden zu ersetzen.

Für mich eine fürchterliche Vorstellung: Sie wollten meine bewährten Fachwerkwände Wand für Wand entfernen und durch schnöde Mauersteine ersetzen. Ich war nicht nur traurig, ich hatte richtige Einsturzängste!

Plan meines Umbaus 1972

Ich konnte mich ja nicht wehren, so haben sie an jeder Wand erst eine Abstützung des Daches gebaut, um dann die Fachwerk-Außenwand zu entfernen. Das hat richtig weh getan. Dann haben sie einfach eine 24 cm Mauer mit Vollziegelsteinen wieder unter das Dach gestellt, bis alle Wände rundum erneuert waren. Innen haben sie mir meine Fachwerkwände und die Zimmerdecken gelassen. Die haben das auch alle überstanden. Die sind nicht so gerade, manchmal auch etwas beulig, das erkennt man heute noch. Dafür stehen die alten Holzständer noch, zum Teil mit den alten Stroh- und Lehm-Ausfachungen, was ja heute erfreulicherweise  bauphysikalisch wieder sehr geschätzt wird.

Damit mussten sie auch alle meine Fenster erneuern. Die Kastenfenster mit eingekittetem Glas hat Heinrich als Tischler selbst gefertigt, mit Hilfe des VEB Möbelwerkes in Dingelstädt, bei dem er damals arbeitete.

Ich wurde dabei größer

Die zwei Familien litten unter der Enge im Haus. Die aufwändige Erneuerung meiner Außenwände brachte ja nicht mehr Platz für sie. Während eine Außenwand nach der anderen ausgetauscht wurde, haben sie ja weiterhin bei mir gewohnt. Sie mussten also viermal in andere Zimmer umziehen, bis alle Wände neu standen, und die Zimmer wieder eingerichtet waren. Neben Anna und Karl, und Heinrich und Ingeburg gab es jetzt ja auch noch die Kinder Karin und Ute.

Die beiden Familien beschlossen, mir wenigstens ein großes Wohnzimmer anzubauen. Wenn schon gebaut wird, dann richtig, dachten sie sich. Und das in einer Zeit, in der es gar nicht einfach war, in der DDR an Baumaterial zu kommen.

Und auf der Hofseite spendierten sie mir zwei Eingänge in einem Vorbau! Mir, als ursprünglichem Doppelhaus, gefiel das. Hinter dem rechten Eingang richteten Sie mir 1972 ein richtiges WC ein. Bis dahin verrichteten alle meine Bewohner ihre Notdurft auf dem Plums-Klo im Hof. Anna Gutbier konnte sich Anfangs damit gar nicht anfreunden. Sie ging Anfangs nach wie vor auf das Plums-Klo – wie sie es schon immer getan hatte.

Ich muss zugeben, ich sah nach dem Umbau ganz chic aus. Ich wirke seitdem viel jünger. Innen ist glücklicherweise noch einiges von meiner Geschichte zu erkennen, die nicht ganz geraden lehmverputzten Fachwerkwände, und die beiden Gewölbe-Erdkeller zum Einlagern von Obst und Gemüse. Und die alte Küche – damals gemeinsam für beide Hausteile – ist immer noch die Küche. Heute aber mit Fußbodenheizung und Elektroherd. Und von dort geht es auch noch immer direkt in die beiden kühlen Gewölbekeller.

Haus auf dem Flumberg

Früher war nur die Küche immer warm

Auch nach dem Umbau gab es den alten holzbefeuerten Küchenofen noch – auch Küchenhexe genannt. Er sorgte nicht nur beim Kochen für wohlige Wärme. Da hielt sich die ganze Familie auf, wenn man zu Hause war. In den anderen Zimmern heizte man die Öfen nur, wenn es nötig war.

Heinirich und Ingeburg wollten irgenwann auch eine moderne Zentralheizung haben. Sie ließen Heizkörper in jedes Zimmer legen, und schafften sich eine Gastherme an. Ich konnte jetzt ganz enfach überall warm sein, in allen sieben Zimmern – eischließich der „Wohnküche“.

2024 hat ein Enkel von Karl alle meine inzwischen in die Jahre gekommenen Elektroleitungen erneuert und die Gastherme durch eine extrem leise laufende Wärmepumpe ersetzt. Ich solle kein CO² mehr ausstoßen, war sein Wunsch. Ich fühle mich auch ganz wohl damit, keine Gasleitungen mehr in meinen Wänden zu haben.

Jetzt bin ich sehr gespannt, welche Menschen demnächst in mir wohnen werden!

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