Erstaunen über meinen Bruder Thomas als „Archivar“

Ich kenne meinen Bruder – dachte ich. Sein Nachlass macht Eigenschaften sichtbar, von denen ich nichts ahnte.

Mein Bruder Thomas Pape ist am 8. Oktober 2023 mit 64 Jahren in Berlin verstorben. Die Auflösung seiner Wohnung haben die 3 verbliebenen Geschwister erledigt. Dabei waren Unterlagen zu sichten, um zu sehen, was noch geregelt werden muss, und was entsorgt werden kann. Es fiel auf, dass Thomas – besonders in jungen Jahren – viel geschrieben hat – und zwar mit der Schreibmaschine. Die Schreibmaschine war so etwas, wie sein persönlicher Assistent. Die hat fast alle Notizen, auch auf kleinen Zetteln, gut lesbar hinterlassen. Wenn Thomas eine Postkarte versandt hat, dann war es Aufgabe der Schreibmaschine, das Bild auf der Postkarte kurz zu beschreiben, die benutzte Adresse zu notieren und ganz kurz zu beschreiben was er auf die Postkarte geschrieben hat. Ein Datumsstempel machte jede Notiz ablagebereit. Und wenn Thomas einen handschriftlichen Brief verfasste, dann musste die Schreibmaschine den ganzen Brief leserlich – und ohne Tippfehler – abschreiben. Der Stempel „Abschrift“ machte so eine Abschrift dann auch ablagefähig. Etliche Briefe sind auch direkt maschinengeschrieben entstanden, dann erhielt der Durchschlag den Stempel „Duplikat“.

Dokumentation der Sippenstunden bei den Jungpfadfindern

Mir war das gar nicht mehr bewusst, Thomas war in den siebziger Jahren bei der DPSG, und zuletzt Leiter bei den Jungpfadfindern. Auch davon liegt ein ganzer Ordner mit detaillierten Notizen zu allen Sippenstunden vor. Die waren oft handschriftlich, aber mit konkreten Strukturanweisungen für die Aufzeichnungen:

Konkrete Anweisungenvon Thomas für die Notizen nach jeder Sippenstunde bei den Jingpfadfindern

Auch für die Eltern der Jungpfadfinder hat der 15 jährige Thomas damals regelmäßige Elternbriefe eingeführt. Die natürlich ganz professionell mit der Schreibmaschine geschrieben, viele ohne Tippfehler!

Kommunikations-Dokumentation

Eine kleine Auswahl der vielen Thomas-Ordner. Die Abnutzungsspuren könnten von den vielen Umzüge kommen.

Nach Jahrgängen geordnet haben sich ganze Ordner damit gefüllt. Auch jede eingehende Antwort wurde mit einem maschinengeschriebenen  Laufzettel versehen, der die wichtigsten Daten zum Katalogisieren enthielt. Nichts ging verloren. Auch nicht die vielen Preisausschreiben-Antworten, die oft als ausgeschnittener Kupon versandt wurden. Da musste die Schreibmaschine dann die aufgedruckten Kupon-Texte abschreiben und markieren, was man geantwortet hat, und wann.  Wenn eine Antwort kam, wurde die natürlich ebenso mit Datum registriert. Ich denke, Thomas hat von 1975 bis 1977 wohl kein Preisausschreiben ausgelassen., so viele Ausgangs-Notizen waren abgeheftet. Alle einschlägigen Firmen kennen zumindest seine damaligen Adressen.

Wenn die bedruckte Postkarte verschickt ist, muss man ja vorher notieren, was alles draufgestanden hat!
Der Text des ausgeschnittenen Kupons soll auch erhalten werden.

Mutig und selbstbewusst war er mit seinen Aussagen auch, so hat der damals sechzehnjährige Thomas dem Magazin Leuchtfeuer in einem Nebensatz deutlich geschrieben, was er von den Inhalten hielt:

Thomas hat mehrere Versuche bei Verlagen unternommen, seine kurzen Texte in nächste Ausgaben zu übernehmen: Er sandte ihnen Witze. Die ebenfalls abgehefteten Rückmeldungen waren allerdings immer ablehnend.

Systematisch erfasst: Der Ausgang und der Eingang der Rückmeldung

Schon früh hat er sich auch um Klarstellung der Fakten bemüht. So schrieb er der BRAVO eine Ergänzung zu einem Bericht über die blaue Mauritius:

Mit 16 Jahren hat Thomas schon für vollständige und stimmige Infos gekämpft!

Viele Anfragen nach Info-Material hat Thomas damals versandt, und auf einem Laufzettel ordnungsgemäß registriert, wie lange die Antwort brauchte:

Der 15 jährige Thomas macht sich viel Mühe mit dem angehefteten Zettel, den er mit Schreibmaschine und Stempel füllt.

Wer so viel Post-Ein- und Ausgangs-Registrierungen vornimmt, der macht sich die Arbeit leichter mit einem Vordruck. Ab 1977 nutzte Thomas diesen Vordruck. In diesem Muster beschreibt er, was auf der eben versandten Postkarte zu sehen war und was er darauf geschrieben hatte. (Kopiergeräte waren ja 1977 noch nicht für jedermann zugänglich).

Ab 1977 erscheinen viele dieser Vordrucke, die jetzt von Hand beschrieben werden. Hier die Notiz von einer versandten Postkarte.

Dokumentation der täglichen Arbeit

Wer im privaten Bereich gute Erfahrungen mit dem systematischen Registrieren von Ereignissen macht, der wird auch dienstliche Vorgänge regelmäßig notieren.  1986 war Thomas beim Druckhaus Tempelhof in der IT-Abteilung. Für jeden Arbeitstag gibt es einen Eintrag auf dieser Endlos-Liste:

Tatsächlich gibt es für jeden Arbeitstag 1986 einen Eintrag von Thomas auf dieser Liste.

Mein Fazit

Ich kenne niemanden, der täglich notiert, was er gemacht hat. Das kann man als systematische Reflektion betrachten. Die ist nur mit Disziplin und zusätzlicher Anstrengung zu erreichen. Bei meinem Bruder hätte ich das nie vermutet. Offenbar hat er das schon als Jugendlicher wichtig empfunden, und sich permanent die Mühe des Notierens gemacht. Auch seine fast tippfehlerfreien Schreibmaschine-Schreib-Fähigkeiten faszinieren mich. Ich kann das bis heute nicht so fehlerfrei.

Da gibt es sicher noch viel mehr über meinen Bruder Thomas zu entdecken. Zu Lebzeiten wurde das nie sichtbar. Wollten wir Geschwister uns über uns selbst nie so richtig austauschen? Oder meinten wir, genügend über den jeweils anderen zu wissen?