Vorwort von Anne Pape
Ich lernte Martha Gutbier Mitte der 70ger Jahre des vorigen Jahrhunderts kennen, als sie bereits eine ältere Dame war, und ich noch nicht zur Familie gehörte.
Vom ersten Moment an hatte sie für mich etwas Außergewöhnliches und irgendwie Weises an sich, was mich faszinierte und neugierig machte. Besonders beeindruckte mich der ruhige Ernst, mit dem sie die Menschen betrachtete und annahm, mich eingeschlossen.
Ich bewunderte sie für die mutigen Entscheidungen, die sie in ihrem Leben getroffen hatte, und für die Klarheit, mit der sie bis ins hohe Alter mit Menschen in schwierigen Situationen arbeitete.
Zum Glück hatten wir oft Gelegenheit, ihr zuzuhören, bis sie sich im Jahre 2018 für immer verabschiedete. Diese Geschichte basiert auf Erinnerungen und Gesprächen, z. T. mit originalen Tonaufnahmen.
Sie ist nun eine kleine Hommage an Martha.
Die Informationen zum Leben von Martha Gutbier stammen im Wesentlichen aus ihrem Nachlaß. Die Zusammenstellung ist unterteilt in die Abschnitte 1. bis 6.
Jeweils am Ende eines Abschnitts führt ein Link zum nächsten Kapitel (Kapitel = Blogpost).
Start ins Leben
Es ist eigentlich ein normaler Abend, Dienstag, der 14. November 1926 in Heiligenstadt, dem kleinen katholischen Städtchen im thüringischen Eichsfeld. In der warmen Küche schaut die alte Frau Förster nach ihren Enkeln Heinrich, 3 Jahre und Katharina, 2 Jahre alt. Sie zanken sich um das kleine Karussell aus bunt lackiertem Blech, was so herrlich rattert, wenn man es aufzieht. Ihr Vater Karl hat es den Beiden erst gestern Nacht aus der Stadt mitgebracht, als er müde vom Schichtdienst kam. Er ist Eisenbahner und bringt immerhin regelmäßiges Geld nach Hause.
Sie seufzt, wenn nur die Kleinen nicht so laut wären! Der Lärm wird ihren Mann wieder aufregen, der eh nicht gut auf die junge Familie zu sprechen ist. Besonders der Schwiegersohn, Karl Gutbier, ist ihm ein ständiger Dorn im Auge.
Und gestern Abend hatte ihre Tochter Theresia nun auch noch ihr drittes Kind zur Welt gebracht. Es heißt Martha, nach der Patin, wie es die Tradition vorsieht. Noch ein Esser mehr, noch mehr Geschrei, noch bedrohlichere Enge im kleinen Hof. Sie seufzt noch einmal.
Dabei hatte man gedacht, nach dem Ende des „Großen Krieges“ würde es ihnen endlich wieder gut gehen.
Vier Monate später
Der noch nicht mal vierjährige Heinrich läuft übermütig auf die noch verschneite Straße und gerät unter einen Lastwagen. Er überlebt den Unfall nicht. Die kleine Martha und ihre Schwester Katharina haben ihren Bruder verloren – der erste große Verlust.
15 Monate später
Wieder hatte sich Nachwuchs angekündigt. Doch Theresias Kind wird tot geboren und sie selbst stirbt am Tag danach. Die noch nicht zwei Jahre alte Martha und ihre ältere Schwester Katharina erleben nun den zweiten, noch schmerzlicheren Verlust.
Kurz darauf
Für Schwiegervater Förster ist der Tod seiner Tochter Anlass genug, den ungeliebten Schwiegersohn samt seinen zwei Mädchen nun vor die Tür zu setzen und das Haus zu verkaufen.
Karl Gutbier, jetzt alleinerziehend und dringend auf die Einkünfte seines Dienstes bei der Bahn angewiesen, braucht schnell eine tägliche Versorgung seiner beiden Kinder. Da er niemanden findet, der gleich zwei Kinder im Haushalt aufnehmen kann, entschließt er sich, die beiden zu trennen.
Katharina wird von ihrer Patin Kathrina aufgenommen. Probleme scheint es mit ihr dort nicht gegeben zu haben. Martha kommt zunächst zu ihrer Patin gleichen Namens, Martha, später dann doch noch zu ihrer Schwester in den Haushalt der anderen Patin, Kathrina.
Martha macht es den Patinnen nicht leicht, denn sie erfüllt ihre Vorstellungen eines niedlichen Kleinkinds nicht. Besonders ärgerlich ist es offenbar, dass sie aufsässig und verstockt wirkt und kaum spricht.
Martha kann sich später nicht an konkrete Vorkommnisse erinnern, hat aber das Haus der Kathrina ein Leben lang gemieden, da es ihr Angst machte.
Die noch sehr kleine Martha fühlte sich verlassen und einsam. Die Mutter war weg und hier wollte man sie eigentlich nicht. Sie konnte sich nur innerlich zurückziehen, was dazu führte, dass sie nur noch ganz wenig sprach. Das erzürnte die Patin noch mehr, die ohnehin dachte, das Mädchen sei ungezogen. Sie meinte ein bockiges Mädchen müsse man streng erziehen, was bei der kleinen Martha weitere Traurigkeit und Angst auslöste.
Nach 5 Monaten heiratet Karl Gutbier wieder
Karl Gutbier konnte seine beiden Kinder nur eine begrenzte Zeit bei anderen Familien unterbringen. Er brauchte also möglichst schnell wieder eine Frau. Die hat er in nur 5 Monaten auch gefunden und schon geheiratet! Am 26.1.1929 wurde die 28 jährige Anna Schneider zu Anna Gutbier. Die neue Familie war gegründet.
Anna Schneider, jetzt Gutbier, besaß eine Haushälfte eines kleinen alten Bauernhauses in Bodenrode, in der sie auch wohnte. In der anderen Haushälfte wohnte die Mutter von Anna. Karl Gutbier zog also mit beiden Kindern in die eine Haushälfte bei Anna ein.
Jetzt war Martha 2 Jahre und 2 Monate alt, und kam wieder zu ihrer 4 jährigen Schwester und ihrem Vater – aber zu einer neuen Mutter, ihrer Stiefmutter. Die kleine Martha hatte sich nach so viel schlimmen Erfahrungen innerlich verschlossen, um weitere Bedrohungen auszuhalten. Ein gar nicht guter Anfang für die Beziehung zur neuen Stiefmutter. Die wurde mit ihrem Steifkind Martha auch nie so richtig warm. Katharina, Marthas großer Schwester, erlebte eine bessere Beziehung zu ihrer neuen Stiefmutter. Noch schlimmer war Marthas Verhältnis zur Großmutter, die im Haus nebenan wohnte. Für sie war immer Martha schuld, wenn irgendetwas schief ging. Martha wurde auch in ihrem neuen Zuhause immer als das ungeschickte Kind abgestempelt, das ja nichts richtig machte.
Ein gutes Jahr nach der zweiten Hochzeit des Vaters Karl, bekam die jetzt 3 1/2 jährige Martha einen Bruder, Josef. Und weitere 1 1/2 Jahre später eine weitere Schwester, Karola. Mit 10 Jahren bekam Martha noch ein Brüderchen, der wieder Heinrich hieß. Das war genau der Name des ersten Kindes von Karl, das ja mit 4 Jahren auf der Straße ums Leben kam.
Als 10-jährige und danach kümmerte sich Martha sehr um ihren Bruder Heinrich. Kinder mochte sie schon damals. Vielleicht wollte sie ihnen auch das geben, was ihr als Kind immer fehlte: Zuneigung.
Die kann ja nichts
„Die kann nichts“, so wurde über sie auch noch als Jugendliche geredet. Man traute ihr nichts zu. Dieses Image hatte sie zu Hause und im ganzen Dorf. Am 29. März 1941 – also 2 Jahre nach Beginn des zweiten Weltkriegs – wurde Martha aus der 8. Klasse der Bodenröder Grundschule entlassen. Mit mäßigem Zeugnis: Sprachlehre, Rechnen, Zeichnen und Turnen lagen ihr überhaupt nicht, Note Mangelhaft!
Es war Krieg und auch Martha musste arbeiten gehen. 1942 in einem Pflichtjahr in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Großkröbitz. Von 1943 bis 1945 als Strickerin in Heiligenstadt. Und von 1946 bis 1949 nahm Martha eine Stellung bei Bauer Schmerbauch in Bodenrode an. Sie versorgte die Tiere auf dem Hof und war von früh morgens bis spät abends beschäftigt. Sie hatte dort auch ein Zimmer, wie das damals so üblich war bei den Beschäftigten auf dem Hof. Martha verstand sich mit der jungen Bäuerin gut. Die hatte ein kleines Kind, um das sich Martha gern kümmerte, wenn sie Zeit hatte. Der kleine Junge lief dann immer mit Martha mit, egal wohin sie ging. Er mochte sie und wollte von ihr ganz viel wissen, wie das kleine Kinder so tun. Martha gefiel das. Sie wurde so etwas, wie die zweite Mutter für den Kleinen.
Das viele Arbeiten auf dem Bauernhof und das Kümmern um den Kleinen (das sie ja freiwillig machte), war für Martha aber insgesamt ein wenig viel. Eine Verwandte aus Heiligenstadt sprach sie eines Tage an „Martha, du siehts ja gar nicht gut aus“. Ja Martha berichtete auch von Sternen vor den Augen, wenn sie sich bückte. Sie merkte, dass sie den Job auf dem Hof nicht ewig machen kann. Die Verwandte war „Dortchen“, Dorothea Schneider die Frau des Bezirks-Schornsteinfegers Heinrich Schneider in Heiligenstadt. Dortchen war die Schwester Anna Gutbiers Mutter. Sie sagte zu Martha: „Wir suchen derzeit ein Hausmädchen. Willst Du das nicht machen? Vormittags ist der Haushalt dran, nachmittags gehen wir spazieren.“
Das klang gut für Martha. Sie willigte ein. Aber noch war sie ja auf dem Schmerbauch-Hof beschäftigt. Die Arbeit konnte sie kündigen, aber dem kleinen Jungen, der sie so mochte, dem konnte sie das nicht sagen. Ihn brachte sie wohl immer abends zu Bett. Auch am letzten Abend meinte die Mutter des Jungen zu Martha, sie solle ihm das besser nicht sagen, aber ihn heute noch ein letztes Mal zu Bett bringen.
Martha berichtete, dass der Junge an dem Abend – obwohl es ihm niemand gesagt hat – immer noch eine weitere Geschichte hören wollte, damit Martha ja nicht geht. Er ahnte wohl, dass er verlassen werden sollte. Als Martha dann endlich ging, schrie er fürchterlich. Ein ganz unglücklicher Abschied für beide.
Bei der neuen Chefin „Dortchen“ lief das dann wirklich so, wie angekündigt: Vormittags Haushalt machen, nachmittags Spazierengehen mit der Großmutter. Und es gab immer gut zu essen, was für Martha ungewöhnlich war. Sie konnte hier auch zwischendurch mal was essen, es stand immer genug bereit. Eines Tages trifft sie ihr Bruder Josef und sagt: „Martha, wie siehst du denn aus? Du hast ja einen dicken Hintern, mit dir kann man sich ja nicht auf der Straße sehen lassen!“ Sie hatte wohl zugenommen bei ihrer Großmutter.
So gut ihr die neue Stellung im Haushalt des Schornsteinfegers Schneider gesundheitlich tat, so fühlte Martha sich aber nicht ausgefüllt damit. Und als dann Redemptoristen in Heiligenstadt den katholischen Glauben in den Häusern wieder stärken wollten, war das für Martha der Anlass, sich mit der Idee zu beschäftigen, vielleicht ins Kloster zu gehen. (Fortsetzungs-Beitrag wird folgen.)
Martha war eines von 7 Kindern von Karl Gutbier
Davon sind 3 sehr früh verstorben. Der Erstgeborene Heinrich wurde als 4-jähriger überfahren, das vierte Kind seiner ersten Frau Therese wurde tot geboren. Einen Tag später starb seine Frau.
Und sein erster Sohn Josef von der zweiten Frau Anna, ist als junger Mann gestorben. Todesdatum ist noch unbekannt.
Nächstes Kapitel: 2. Martha Gutbiers Patin war Martha Gutbier