Für mich als Ingenieur ist der Klimawandel auch eine persönliche Herausforderung. Nachdem mir (viel zu spät) klar geworden ist, dass beim Autofahren mit Verbrennungsmotor nur 1% des Sprits den Fahrer bewegt, habe ich mein Auto abgeschafft. Das Bewegen von 1500 kg Auto für den Transport von 75 kg Mensch bleibt auch mit Elektromotor Verschwendung. Das das auch anders geht, zeigen die vielen Fahrradmodelle, bis zu großen Lastenrädern. Wer sein Auto dafür stehen lässt, darf sich auf dem Rad auch eine Motorunterstützung leisten!
Warum gerade Liegerad?
Fahrrad fahren bedeutet für mich seit 2017 Liegerad-Fahren, fast immer auf meinen Tanaro-Rädern. Die einzigartige aufrechte hohe Sitzposition der Tanora-Räder hat es mir angetan. Ich fahre in der Stadt tatsächlich auf Augenhöhe mit den Autofahrern, kann durch die Autoscheiben den Verkehr davor einschätzen und sitze auch fast wie in einem Autositz. Beim Fahren auf dem Tanaro-Liegerad ertappe ich mich immer wieder bei dem Gedanken, ob ich nicht noch einen Umweg fahren kann, damit die Fahrt nicht schon so bald zu Ende ist. Leider kenne ich keine aktuellen Liegeräder, die auch nur annähernd diese hohe Sitzpositionen bieten. Deshalb meine Fixierung auf die nun schon 20 bis 30 Jahre alten Tanaro-Räder.
Mein erster Antrieb: add-e Next
Seit 2019 habe ich einen “Berg-Ausschalter” montiert, einen add-e Next-Antrieb. Der Grund: Bergauf ist man mit dem Liegerad noch ein wenig langsamer. Damit werden die Schlingerbewegungen auf der Straße auch größer. (Beim Liegerad kann man die Balance ja nur durchs Lenken halten, nicht durch sonst kaum merkbare Oberkörperverlagerungen.) Nur fürs Bergauf-Fahren habe ich mir mit dem add-e Next Antrieb ein wenig Unterstützung eingebaut. Berichte dazu findest Du hier und hier. Leider hatte ich nach 4 Jahren ein technisches Problem mit dem kleinen add-e Antrieb. Auch deshalb meine Bemühungen einen anderen Antrieb am Fahrrad auszuprobieren.
Tretlagermotor zum nachträglichen Einbau
Glücklicherweise erhielt ich ein zweites gebrauchtes Tanaro-Rad für mein Experiment. Vom Tanaro Konstrukteur Manfred Willems erhielt ich den Tipp, einen Tongsheng Tretlagermotor vorn an Stelle des alten Tretlagers einzubauen. Die chinesische Firma Tongsheng liefert als einzige einen Nachrüst-Tretlagermotor mit eingebautem Kraftsensor. Und der Einbau sei recht einfach, weil bis auf den Akku, den Geschwindigleitssensor und das Bedienteil alles im Motor integriert ist.
Ein Kraftsensor macht das Fahren sehr viel natürlicher: Mehr Pedaldruck erzeugt mehr Unterstützungskraft. Es fühlt sich an, als hätte man mehr Muskelkraft! Motoren ohne Kraftsensor (der Bafang Tretlagermotor und fast alle Nabenmotoren, vorn oder hinten) können nur eine definierte Unterstützungsleistung dazu geben, entweder bis zum Erreichen einer bestimmten Geschwindigkeit oder bis zum Erreichen eines voreingestellten Motorstroms – abhängig von der jeweiligen Unterstützungsstufe. Das spricht alles für den Tengshong Motor mit Kraftsensor.
Nachrüstteile bei Enerprof bestellt
Es gibt nur wenige Anbieter für solche Fahrrad-Nachrüst-Sätze, die aus Deutschland liefern. Von Enerprof habe ich in den relevanten Foren nur positive Berichte gelesen. Deshalb habe ich diesen Nachrüstsatz für mein Tanaro-Liegerad dort bestellt:
Da fehlt nur noch das Ladegerät, was den Preis um 50 € erhöht.
Ich werbe hier nicht für Enerprof, will nur Hinweise für Nachbau-Interessierte geben.
Der Einbau
Die größte Hürde war bei mir der Ausbau des alten Tretlagers. Nachdem das entfernt war, musste ich zwar an dem extrem dickwandigen Tretlager-Gehäuse bei meinem Tanaro Liegerad einen Streifen von etwa 1mm Tiefe abfeilen, dann aber konnte das neue Tretlager komplett mit anhängendem Motor eingeschoben werden. Eine spezielle Mutter fixiert das gesamte Tretlager. Der dafür notwendige Schlüssel wird mitgeliefert.
Der Motor erfordert noch einen Verdrehschutz. Die Teile für die Fixierung an den Hinterbaustreben funktionieren hier nicht. Am Liegerad muss man da ein wenig improvisieren. Ich habe dafür ein kuzes Stück PVC-beschichtetes Lochband zur vorderen Tanaro-Rahmengelenkschraube verwendet.
Am Motor hängen mehrere Kabel mit Spezialsteckern. Die Stromversorgung vom Akku, der Anschluß für Display und Steuergerät, der Anschluß für den Geschwindigkeitssensor am Rad – und ein Anschluß für die Beleuchtung und einer für Bremskontakte. Weder Beleuchtung noch Bremskontakte nutze ich an meinem Rad. Für die Beleuchtung nutze ich nach wie vor den akku-unabhängigen Nabendynoma. Und die Bremskontakte sind eigentich nicht nötig. Ja, der Motor läuft nach Beenden der Tretbewegung noch 1 bis 2 Sekunden nach. Das störte bisher aber auch beim starken Bremsen nicht.
Den Geschwindigkeitssensor hab ich am Vorderrad in der Nähe des Motors angebracht. Für das Display musste ich am Unterlenker ein wenig die richtige Stelle ausprobieren. Insbesondere die Bedientasten für die Unterstützungsstufen müssen leicht erreichbar sein.
Mein Akku hat 720 Wh, um auch große Tagestouren mit Unterstützung zu überstehen. Das 3,5 kg schwere Teil habe ich am Sitzrohr mit drei M5 Schrauben angebracht.
Alles funktionierte – fast auf Anhieb
Bei der Probefahrt wunderte ich mich, dass die Unterstützung nur bei ganz kleinem Tempo wirkte und danach nicht mehr. Man muss die Radgröße auch wirklich einstellen. Voreingestellt war ein 26” Rad. Mein 20” Vorderrad dreht viel schneller, was zum frühen Abschalten bei vermeintlichen 25 km/h führte. Die Einstellung geht ganz einfach über das Bedienteil.
Hinweis: In der Bedienungsanleitung des von mir verwendeten DZ41 Displays gibt es einen fatalen Übersetzungfehler bei den Grundeinstellungen: “Um in die individuellen Einstellungen zu ändern muss das Display zunächst mindestens höchstens 10 Sekunden an sein. Mit 3 Sekunden Druck auf die Taste M erreichen Sie das Menu.” Höchstens 10 Sekunden ist richtig!
Erfahrungen nach 430 km im Alltagsbetrieb
Ein so elegantes Radfahr-Erlebnis hatte ich noch nicht. Schon in untersten Stufe – und die nutze ich fast immer – fühlt sich das Fahren viel leichter an. Irgendwie erinnert mich das ans Autofahren, ein leichter Pedaldruck genügt, und man beschleunigt die Fahrt. Dazu trägt auch der extrem leise Motor bei. Nur ein flüsterndes Motorengeräusch ist bei genauem Hinhören wahrnehmbar. Das ganze Rad macht keine Gräusche und bewegt sich kräftig beschleunigend – fast wie in einem Oberklasse-PKW.
430 km seit dem Einbau, auch über unsere Hausberge in der Fränkischen Schweiz. Auffällig ist: Ich fahre manche Berge damit schneller hoch als auf der Ebene. Man gewöhnt sich an, nicht mehr runter zu schalten, sondern in höhere Unterstützungsstufen zu gehen. Ja, man wird bequem mit so einen Antrieb – und auch noch schnell. Also die Stufe 1 (von 5) ist für 90% meiner Strecken völlig ausreichend. Nur: Die schalte ich jetzt immer ein! Und der Akku hält sehr lange durch. Neulich habe ich ihn nach 180 km aufgeladen, obwohl er noch nicht ganz leer war. (Vielleicht hätten 500 Wh ja auch genügt.)
5.8.2023: Nach dem letzen Aufladen bin ich bis zum automatischen Abschalten des Akkus 219,7 km gefahren. Ich wäre auch mit 150 km pro Akkuladung zufrieden. Also ein 500 Wh-Akku wäre wirklich ausreichend gewesen für den Tongsheng Tretlagermotor.
Daumenwert zum Rechnen: Das entspricht 330 Wh für 100 km in Stufe 1 auf ebener Strecke. Mein Grünstrom-Tarif kostet derzeit 40,8 ct je kWh. Ich fahre also mit etwa 15 ct 100 km weit.
Ein paar kleine Begrenzungen gibt es auch
Tanaro-Liegeräder wurden nicht für Tretlager-Motoren gebaut. Die Steifigkeit des langen Rahmens ist fürs normale Treten ausgelegt. Ein Motor bringt zusätzliche Kräfte einseitig auf die Kette, was die Rahmensteifigkeit herausfordert. Man fährt auch eher in höheren Gängen, was wiederum mehr Kettenkraft bedeutet. Deshalb ist ein behutsames (bequemes) Treten angesagt, wenn man mit Motorunterstützung fahren will.
An der Abregelgrenze bei 25 km/h spüre ich ein leichtes Vibrieren in den Pedalen, um so intensiver, je höher die Unterstützungsstufe ist. Ich kann noch nicht ausmachen, ob das im Motor passiert, oder sich über den langen Kettenstrang als Schwingung ergibt. Damit kommt man gut klar, wenn man mit Antrieb unter 25 km/h bleibt. Ohne Antrieb ist da gar nichts zu spüren, also in Stufe 0 oder beim Bergabfahren. Mögllicherweise ist das auch mit einem Software-Update behebbar, soweit bin ich noch nicht.
Diese Begrezungen halten mich aber nicht davon ab, vom Tengshong-Tretlagermotor an meinem Tanaro zu schwärmen. Ich nutze es derzeit nur noch, und fahre ausgesprochen gern damit.