4. Martha Gutbier flieht über die Grenze – ins Kloster

1949 war Martha Gutbier in Heiligenstadt (Eichsfeld) als Hauhaltshilfe beschäftigt. Dort ging es ihr gut, aber das füllte sie nicht aus. Deshalb folgte sie dem Ruf ins Kloster zu gehen. Das war aber in „Westdeutschland“. Dorthin war die von Soldaten bewachte Grenze zu überwinden.

Das ging schon beim Treffen mit dem Schleuser schief. Sie wurde festgenommen und musste mit den Soldaten eineinhalb Tage lang zur Kommandantur in Hohengandern laufen. Dort wurde sie verhört und wieder nach Hause geschickt. Das kam für sie aber gar nicht in Frage. Deshalb unternahm sie gleich danach den zweiten Versuch, diesmal im Laufschritt bei strömendem Regen direkt am Schlagbaum der offiziellen Grenzstation vorbei. Den soldatischen Anruf „Stehenbleiben“ ignorierte sie.

In diesem 18 Minuten Podcast erzählt sie die ganze Geschichte selbst. Das war 2009. Sie war da 82 Jahre alt.



Transkript des Gesprächs mit Martha Gutbier:

(Etwas gekürzt und für die Verständlichkeit an wenigen Stellen ergänzt.)

Ja es war eine schöne Zeit (im Haushalt des Schornsteinfegers Schneider), aber es war zu schön. Also es war etwas, was mich nicht ausfüllte. Deswegen hab ich dann auch da so zugegriffen, um ins Kloster zu gehen. Ich bin in dieser Volks Mission aus dem Predigten heraus und Beichte gehen und so. So wurde ich da irgendwie so kurz drauf gestoßen und habe das sofort ganz tief in mich aufgenommen und konnte nicht mehr anders. Ich musste damals das machen. Ich wäre innerlich ohne das, wäre ich nicht glücklich geworden.

Wann war das? 1950 bin ich in den Orden eingetreten, dann war das 1949.

Ja dann hatte ich also, als ich mich da entschieden hatte, hatte ich also gar nichts anderes mehr im Kopf, als dass ich dahin muss. Dann kam dieser Grenzübergang, der mich dann schon mal so ein bisschen …. Aber da war ich ja auch so fest entschlossen. Deswegen habe ich das auch geschafft. Dadurch ich bin ja über die Grenze.

Also da war ich nicht mehr ich selber. Wirklich das war also, das war ein ganz anderer, der da in mir gewirkt hat. Das war ich nicht. Ich war ja ängstlich.  Ich hatte ja unheimliche Ängste. Ich habe ja nie was gewagt. Und da hab ich, da hab ich alles gewagt. Und das war so:

Maria Dellemann, die hatte ich in Heiligenstadt, die kannte Käthi gut. Die waren ziemlich befreundet und die hab ich dann in Heiligenstadt in der Zeit bei Tante Frieda kennengelernt. Und wir haben dann öfter was zusammen unternommen. Wir waren also so leicht Freundinnen. Die hat mir damals gesagt, Ihr Vater kennt jemanden, der anderen hilft, über die Grenze zu kommen. Das war auch ein Briefträger, und das lässt sich gut machen, dass du einfach mit dem gehst. Und der nimmt deine Tasche in deinen Brief-Dings und so. Das war alles so leicht hingestellt.

Der Vater hat mich auch dahin gebracht. Der wechselte da, der gab da die Post von Heiligenstadt aus ab, für den Briefträger. Und dann hat er mich da abgegeben.

Ich war gerade mit dem zusammen, wir wollten gerade was besprechen, da kamen zwei Polizisten, Russen, Grenzgänger. Und dann haben die direkt festgestellt, ich hatte mir irgendwo in der Hand, was rein geschrieben, eine Nummer. Wo ich drüben weiter konnte – irgendwas hatte ich da drin stehen oder irgendwo, ich weiß nicht wie, ich war der Meinung, ich hätte es versteckt. Aber also die wussten genau, wo sie schauen mussten.

Hattest du den Eindruck, dass das irgendjemand verpfiffen hat?

Nein, nein nee nee, nee. Der junge Mann wurde mit festgenommen, wir wurden beide festgenommen.

Ja, dann ging es los. Wandern, laufen – den ganzen Tag. Das war morgens so gegen halb elf Uhr sowas. Da haben sie uns festgenommen. Also sie gehen mit uns zur Kommandantur und wir waren ja ziemlich weit ab da – ich weiß nicht genau. Wo das war, weiß ich nicht mehr.

Auf jeden Fall sind wir den ganzen Tag gelaufen. Und dann sind wir in die Berge rauf, dann sind wir über die Teufels-Kanzel gegangen. Das war für die Eichsfelder ein Ausflugs Ort, also da musste man mal gewesen sein. Da konnte man nämlich runter schauen auf die Werra, ganz unten im Tal. Na ja, Werra-Schleife so.

Und da sind wir auch drüber marschiert. Und ich hab da oben so gedacht, Mama mia, hier bist Du noch nie hergekommen. Und jetzt auf diese Weise, na ja. Hätte auch schöner sein können auf eine andere Weise da oben zu sein. Man hatte den Werra Blick, aber ich war ja innerlich – ja was soll jetzt werden, ich war ratlos. Kannst du dir vorstellen: Festgenommen, abgeführt, zwischen 2 Polizisten den ganzen Tag marschieren.

Ja, und dann kamen wir abends in einem Ort an. Und da haben die uns zwei in einen Keller gesteckt und zugemacht. Morgens um 4 haben sie uns wieder rausgeholt und dann ging das weiter. Dann sind wir gelaufen bis gegen Mittag, dann waren wir in Hohengandern, wo die Kontrolle, also die russische Kommandantur war für den Bereich.

Und die hatten dann ihre Polizei-Leute, Frauen – und die Frauen waren ja noch schlimmer als die Männer – ja und dann wurdest du untersucht. Da musstest du dich ganz – bei einer Frau natürlich – dann aber ganz ausziehen. Alles wurde durchsucht. Körper und Tasche, alles.

Und ich hatte – Ich hatte ja nicht viel. Also das Fahrgeld hatte man mir im Westen bereitgelegt, ich hätte ja kein West Geld. Das hatte man mir vom Kloster aus zu bestimmten Leuten in Eichenberg, hinter der Grenze zur Bahnstation geschickt. Und da sollte ich auch übernachten und am nächsten Morgen mit dem Zug fahren von Eichenberg.

Das war wohl die Telefonnummer, von denen oder was – irgendwas, was ich bei mir hatte, woran die festgestellt haben, dass wir über die Grenze wollen.

Also in der Keller-Nacht hatte ich meine ziemlich neue Handtasche präpariert. Ich brauchte ja dies und das für unterwegs. Dafür hatte ich mir so eine neue Handtasche gekauft, wo ich viel drin lassen konnte. Und dann habe ich an die hundert Mark gedacht, die ich noch bei mir hatte.

Aber die wollte ich drüben umtauschen. Ich wollte ja auch ein bisschen Geld haben unterwegs. Und ich habe gedacht, diese hundert Mark dürfen die mir nicht wegnehmen. Ich hatte, da noch kleineres Geld. Noch 27 Mark und so und soviel hatte ich im Portemonnaie. Und da habe ich in der Nacht – weist du, da war so Stroh auf dem Boden und da drunter war so ein Lehmboden. Und da habe ich überlegt was kann ich machen? Wo kann ich die hundert Mark verstecken? Dann ist mir die Idee gekommen:

Da waren so Taschenbügel. Da hab ich von unten drunter einen Taschenbügel – ich hatte ein Taschenmesserchen bei mir – eingeschnitten, und hab die hundert Mark ganz klein gewickelt. Und hab sie da reingeschoben. Und dann hab ich Lehm genommen und habe die ganze Tasche mit Lehm eingerieben, das sie alt aussah. Und habe dem Lehm dann wieder abgerieben und dann blieben überall, so in den Fugen und so, da blieb dann so ein bisschen dunkles Zeug stecken. Dann sah das alt aus, und in den Bügeln genauso. Und die haben den Schnitt nicht gesehen!

Die haben die Tasche untersucht. Jeden Winkel der Tasche ganz genau. Aber die haben den Schnitt nicht gesehen. Also hatte ich noch diese hundert Mark.

Oh, da hab ich mir auch noch eins geleistet: Da hab ich, also ich hab einfach so, ich hab einfach so um das alles gut ging, habe ich der Mutter Gottes versprochen, wenn du mir hilfst, dann werde ich, wenn ich drüben bin,  mir keine Schokolade kaufen. Das hatte ich nämlich vor. Das kriegteste ja nicht bei uns und das war ja was. Unterwegs wollte ich die Essen – noch bevor ich ins Kloster ging. Ja gut, das habe ich ihr versprochen und sie hat mir ja auch geholfen.

Auf jeden Fall, also als sie dann nix weiter bei mir gefunden haben als diese 27 €, da haben sie gesagt, also ich würde eine Strafe bekommen und die müsste mein Vater zahlen. Da habe ich gesagt, mein Vater? Kann ich nicht zahlen? Ich bin über 21, ich bin erwachsen. Mein Vater ist für mich nicht zuständig. Da sind die drauf eingegangen. Also ich hab da – ich weiß selber nicht wo ich das war – das war ich nicht, ich weiß nicht wo ich das her hatte. Auf jeden Fall haben Sie dann gesagt: Gut, dann behalten wir den Rest und sie kriegen 2 Mark soundsoviel, damit sie nach Hause fahren können mit dem Zug. Ja gut. Dann waren wir entlassen, um mit dem Zug nach Hause zu fahren.

Und ich hab mir gesagt, ich hab mich von allen verabschiedet. Ich gebe mir nicht die Blöße, da wieder zurückzugehen. Ich geh nicht nach Hause, habe ich zu mir gesagt, ne. Und ich habe gedacht was soll ich jetzt machen? Wie komme ich jetzt über die Grenze? Und ich war ja in dem Ort, wo die Haupt Kontrollstelle war. Da war ja dann auch schon große eine Grenzkontrolle mit rechts und links einem Häuschen, wo bewaffnete Soldaten drin waren, die das bewachten.

Und dann fiel mir ein, du könntest ja zu den Verwandten der Tante Frieda gehen. Die kam aus der Gegend, und vielleicht können die dir helfen? Ich wusste davon, dass die auch schon mal in den Steinbrüchen, Leute durchschleusten. Die Leute gingen dahin mit Essen, Körbchen oder so, Mittagessen – und die haben die dann heimlich durchgebracht. Da bin ich zu den Verwanden hingegangen.

Also es regnete da auch. Dann haben die gesagt, einen ungünstigeren Tag kannst du dir überhaupt nicht aussuchen als heute. Es ist kein Mensch im Steinbruch, es regnet und die können nicht arbeiten. Und außerdem würde das sofort auffallen, wenn da auch jemand hinginge, also das wäre unmöglich, ich solle nach Hause fahren.

Ich habe gesagt, ich kann nicht wieder nach Hause fahren. Ich habe mich verabschiedet. Ich fahre auch nicht nach Hause. Und da habe ich dann da so gesessen – und die haben auch da so gesessen und gebrütet. Da war so ein 14 jähriges Mädchen. Und da sagte die mit einem Mal: Wenn du meinst du musst rüber, dann renn doch durch den Schlagbaum!

Da fragte ich ich: Wo ist denn der Schlagbaum?

Sie machte Blödsinn, ne, ich hab das ernst genommen. Für mich war alles real. Ich sag: Wo ist denn der Schlagbaum?

Da hat sie gelacht. Sie hat mich nicht ernstgenommen.

Ja, und sie merkte auf einmal, das mir das ernst war. Sie konnte es nicht glauben, dass ich das machen wollt. Aber sie musste erkennen, ich mein das ernst. Irgendwo ist ihr das aufgegangen und dann hat sie gesagt:

Also wenn du das wirklich machen willst – es regnet ja jetzt in Strömen. Vielleicht hast du ja Glück, dass die gerade mal nicht rausgucken, weil sie glauben bei dem Regenwetter kommt keiner durch. Dann war das noch fester bei mir.

Und dann hat sie mir noch eine ganze Reihe Ratschläge gegeben:

Wenn du jetzt wirklich dadurch kommst, guck nicht rechts und nicht links. Lauf gerade – man muss einfach in so einem Zickzack durch dieses Ding gehen – weißt da musst du hier auf der einen Seite rein, dann wieder dadurch und dann raus.

Und sie ist ein Stück mit mir gegangen, aber nur so grad bis zum Orts Ende, wo man die Richtung hatte. Also ich wusste, ich sah erstmal keinen Schlagbaum und dann hat sie gesagt:

Naja also. Sie wünscht  mir Glück.

Aber sie hat dann noch gesagt: Martha, wenn du jetzt wirklich durch den Schlagbaum kommst, dann pass gut auf, dass du nie im Bogen läufst. Das kann ganz leicht passieren und dann bist du wieder an der Grenze und dann halten die dich trotzdem fest. Aber wenn die dich anrufen und du bist durch, dann brauchst du dich nicht zu kümmern, da brauchst du nicht zu antworten. Dann läufst du einfach geradeaus. Das wusste sie alles.

Ja, hab ich gesagt gut. Hab ich mir auch gut gemerkt. Ich weiß jedes Wort was gefallen ist. Das hab ich halt noch so präsent.

Und dann hat sie gesagt: Ja, dann machs gut!

Dann ist sie weggelaufen. Und es regnete und ich bin im Laufschritt auf die Grenze zu. Und als ich dann so die Grenze –  also diese Häuser da stehen sah – das war alles so im Nebel. Es regnete richtig in Strömen. Es war alles neblig, so undurchsichtig, so halbdurchsichtig. Ich sah also die beiden Häuschen da auf jeder Seite und ich sah auch noch in der Mitte, da ist was. Und ich sah dann auf den Wiesen so dunkle Punkte – und da habe ich gedacht: Oh Gott, das sind Soldaten auf der Wiese.

Es waren aber Kühe als ich näher kam. Und ich bin immer gerannt, also meine Puste  – ich konnte sonst nie so gut rennen, aber da bin ich gerannt. Und bin einfach durch den Schlagbaum durchgelaufen und geradeaus weiter. War nix. Einfach durchgelaufen.

Und mit einem Mal rief einer: Bleiben sie stehen! Da hab ich gedacht, kannst mich mal gern haben. Ich bin ja durch den Schlagbaum durch. Ich brauch nicht stehenzubleiben. Die hatte mir ja gesagt, ich sollte nicht drauf reagieren.

Da bin ich weitergelaufen dann schrie der wieder: Bleiben sie stehen!

Ich dachte nee, kannst mich gerne haben. Bin ich wieder weitergelaufen. Ich bin also einfach gelaufen.

Und dann hat er geschrien: Also sie zwingen mich zu schießen, wenn sie jetzt nicht stehen bleiben!
Ganz laut hat er das gerufen, ich konnts gut verstehen.

Und da hab ich, da hab ich Not gekriegt und bin stehen geblieben. Und dann kam der auf mich zu, dann war das ein Engländer. Da hat er gesagt: Was haben Sie sich dabei gedacht?

Und habe ich ihm erzählt, was ich mir gedacht habe, was mir gesagt worden war.

Ja sagt er, das hätte ganz schön schief gehen können. Sie haben mich wirklich in Verlegenheit gebracht. Ist meine Anweisung, ich hätte sie nicht erschossen, aber immerhin ins Bein geschossen. Er hätte mich laufunfähig gemacht.

Da habe ich aber durchgeatmet. Ja, und dann war der ganz freundlich. Der hat mich gefragt, wo ich denn hin wollte, und dann hat er mir den Weg gezeigt, ist ein Stück mitgegangen. Er hat mir den Weg gezeigt nach Eichenberg, wo ich hin wollte. War alles in Butter, dann hab ich da übernachtet. Es war dann doch schon spät, ich musste noch ein Stück laufen.

Auf jeden Fall bin ich am nächsten Morgen mit dem Zug losgefahren. Und in Offenburg musste ich umsteigen. Und ich hatte mir ja vorgenommen, keine Schokolade zu kaufen. Aber dann habe ich gedacht „Süßigkeiten“ habe ich nicht gesagt. Kannst du dir vorstellen, wenn du so ausgehungert bist, du siehst jetzt alles vor dir – da waren also so Automaten wo du einfach was ziehen konntest oder so. Das war so überwältigend. Weil wir das ja gar nicht, wir hatten ja also – Es gab ja nix.

Ja, hungern, gehungert haben wir nicht. Aber nix besonderes also. Alles, was wir, was di dir so vorgestellt hast, das gabs nicht.

Ja, und dann habe ich mir dann doch so ein paar Bonbons gekauft. Aber keins von gegessen. Ich hatte die alle noch. Ich kam im Kloster an, und hatte die Bonbon. Was mache ich jetzt damit? Ich wollt mir auch nicht die Blöße geben, die da abzugeben. Man musste ja alles abgeben, im Kloster hattest du nichts. Dann habe ich die unterm Kopfkissen versteckt. Aber die Novizen Meisterin hatte die längst gesehen. Die hat immer drauf angespielt, irgendwie in ihrem was sie so sagte.

Und ich wusste, die meint jetzt mich mit den Bonbons, aber ich hatte sie nie gegessen, sie waren immer noch da. Ich hab mich nicht getraut. Wir waren zu zweien im Zimmer, zwei Zellen abgeteilt mit so einem Vorhang. Und wenn ich da an der Tüte geraschelt hätte, das hätte die andere ja gehört. Und das war eine so 100prozentige, auch eine Novizin, also eine Postulantin. Sie kam vom Schwarzwald, eine ganz Ernste.

Naja, irgendwann und irgendwo habe ich sie dann verschwinden lassen. Aber ich hab nix davon gegessen! Sollte nicht sein, aber war dann auch egal. Meine größere Sorge war ja, das Zeug loszuwerden, ohne mich bloßzustellen.

Nächstes Kapitel: 5. Martha Gutbier wird Schwester Immaculata

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