Karl Gutbier gründet seine Familie in schwerer Zeit

Karl Gutbier ist mein Opa. Ich habe nicht viel von ihm erlebt. Er wurde 1896 geboren und verstarb 1972 in Bodenrode im Eichsfeld als ich 21 Jahre alt war. Wir wohnten auf verschiedenen Seiten des “Eisernen Vorhangs”, ich in West-Berlin, er in der DDR. Gern hätte ich mehr von ihm erfahren. Ich weiß nur, er war Eisenbahner, er rauchte Zigarren, hatte irgendeine offene Wunde am Schienbein, die täglich gesalbt und umwickelt werden musste. Und: Er konnte mit den Ohrläppchen wackeln – was irgendwie zu seinen großen Ohren passte.

Ich will ihn ein wenig besser kennenlernen

Deshalb beginne ich hier eine Sammlung mit Infos über ihn. Der Beitrag kann also noch wachsen.

Karl Gutbiers Eltern waren

  • Nikolaus Gutbier – geboren am 19. Mai 1854 in Heiligenstadt, gestorben am 5. Mai 1937
  • und Theresia Gutbier, geborene Dellemann – geboren am 24. August 1853, gestorben am 30.9.1935.
Bild: Nikolaus und Theresia Gutbier (Eltern von Karl Gutbier)

Nikolaus Gutbier wird in den amtlichen Urkunden immer als „Zigarrenarbeiter“ bezeichnet. Er arbeitete vermutlich in einer Heiligenstädter Zigarrenfabrik. Heiligenstadt war damals so etwas wie der Mittelpunkt der Zigarrenindustrie. Auch im Heiligenstädter Adressbuch von 1924 wird er als einer der 19 aufgeführten Gutbiers mit der Adresse „Fuchswinkel 1“ dargestellt:

Auf amtlichen Formularen musste er Unterschriften leisten. Dabei fällt auf, dass er seine Unterschrift mit einem Endschwung gestaltet hat. Sie wirkt gekonnt und wichtig. Von einem einfachen Zigarren-Arbeiter vermutet man das nicht so.

Unterschrift Nikolaus Gutbier

Von ihm und seiner Frau habe ich nur zwei Bilder. Eines, der Kleidung nach zu urteilen, “bei der Arbeit im Garten” oben, und eines bei einem gestellten Familienbild für den Fotografen. Angespannt und recht alt sehen sie auf beiden Bildern aus. In welchen wirtschaftlichen Verhältnissen die beiden gelebt haben, ist noch unklar. Die beiden bekamen sechs Kinder im Zeitraum von etwa 20 Jahren, für die sie in der Zeit sorgen mussten. Eines davon – vermutlich die zweite Person von rechts – ist Karl Gutbier, geboren am 28. Juni 1896.

Die Familie von Nikolaus und Theresia Gutbier (am Tisch sitzend), vermutlich etwa um 1906

Karl Gutbier heiratet mit 25 Jahren

Am 20. Februar 1922 heiratete Karl Gutbier die fast auf den Tag gleichaltrige Theresia Förster, geboren am 1. Juli 1896. Von den beiden gibt es auch nur zwei Bilder, eines vermutlich von der Hochzeit und eines in einer Küche.

Im Heiligenstädter Adressbuch 1924 steht – wie sein Vater – auch Karl Gutbier. Mit der Adresse „Windische Gasse 29“:

Aus wenigen Lohnakten der Deutschen Reichsbahn ist zu entnehmen, dass Karl Gutbier am 19.10.1914 dort eingestellt wurde. Da war er 18 Jahre alt. Vermutlich war er zuvor irgendwo Lehrling. In den 1950er Jahren wurde er als „Zugführer“ bei der Reichsbahn geführt. Nach diesen Unterlagen gehörte er zur Reichsbahndirektion Erfurt, Reichsbahnamt Nordhausen, Reichsbahnstelle Bahnhof Leinefelde, Beschäftigungsort Leinefelde. Sein monatlicher Lohn betrug 1953 279 Mark und 1957 350 Mark.

Man sagt, er fuhr auf der Strecke Heiligenstadt – Schwebda (bei Eschwege) und auch auf der Strecke Leinefelde – Geismar. Enkel erinnern sich daran, das Karl immer von einem „Sieben-Vaterunser-Tunnel“ sprach, durch den er fahren musste. Vermutlich hat er den 1 km langen Frieda-Tunnel kurz vor Schwebda gemeint.

Ab 1929 konnt er ab dem gerade eröffneten Eisenbahn-Haltepunkt Bodenrode zum Dienst fahren. Das war übrigens der erste Haltepunkt zwischen Leinefelde und Heiligenstadt, erst danach wurden Beuren und Wingerode eingerichtet. Bodenrode war damals wohl der wichtigste Ort auf der Strecke. Der Haltepunkt Bodenrode hatte einen Schrankenwärter, der auch Fahrkarten verkaufte. Fahrkarten waren aus Pappe und etwa 6  x 3 cm groß. Dafür soll ein Holzhaus am Haltepunkt gestanden haben.

Karl-Gutbier-mit-erster-Frau-Theresia
Bild: Theresia und Karl Gutbier, vermutlich 1922 bei der Hochzeit
Bild: Theresia und Karl Gutbier, vermutlich in der Heiligenstädter Wohnung vor 1928

Gut ein Jahr nach der Eheschließung wird ihr erster Sohn, Heinrich Gutbier am 21. Juni 1923 geboren.
Die erste Tochter, Katharina Gutbier wird ihnen am 19. September 1924 geboren. (Katharina ist meine Mutter.)
Und zwei Jahre später wird Martha Gutbier am 13. November 1926 geboren.

Die Familie wohnt in Heiligenstadt. Der kleine Heinrich ist noch keine 4 Jahre alt, als er am 18. März 1927 auf der Straße von einem Lastwagen überfahren wird. Ein herber Schicksalsschlag für die junge Familie.

Bald ist ein viertes Kind unterwegs. Das wird leider am 30. August 1928 tot geboren. Irgendwas war in der Schwangerschaft nicht in Ordnung – die Mutter Theresia starb einen Tag nach der Totgeburt am 31. August 1928.

Karl Gutbier war jetzt Wittwer mit zwei kleinen Kindern

Er musste aber weiter arbeiten gehen, um die Familie zu ernähren. Als Eisenbahner war er im unregelmäßigen Schichtdienst immer auf Reisen. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als seine zwei Kinder (2 und 4 Jahre) in die Obhut der Verwandtschaft zu geben. Sicher ein großer Schock für die beiden Mädchen Katharina und Martha. Karl Gutbier konnte sie auch nur getrennt in verschiedenen Familien unterbringen. Meine Mutter, Katharina Gutbier berichtete nie von dieser Zeit. Martha Gutbier muss in der Zeit als Kleinkind mit 2 Jahren aber sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Sie litt lange darunter, wie sie mir berichete.

Karl Gutbier wollte das möglichst schnell beenden. Das ging aber nur mit einer neuen Frau, die er erstaunlich schnell fand – nach nur 5 Monaten!

Karl Gutbier heiratet mit 32 Jahren zum zweiten Mal

Anna Schneider war die Auserwählte. Sie war mit 28 Jahren noch nicht verheiratet, und besaß sogar eine kleine Doppelhaushälfte mit Grundstück in Bodenrode. In der zweiten Haushälfte wohnte ihre Mutter Dorothea Schneider.

Bild: Wohnhaus von Mutter Dorothea (Mitte) mit Alfred und Josef und Anna Schneider (rechts) in Bodenrode, vermutlich um 1910

Am 26. Januar 1929 heirateten die beiden. Gleich danach holte Karl seine beiden Töchter Katharina und Martha wieder zu sich und zur neuen “Mama” in die kleine Haushälfte von Anna in Bodenrode. In der anderen Hälfte des Doppelhauses wohnte ihre Mutter Dorothea Elisabeth Schneider, eine geborene Flume. Vermutlich nennt man das Grundstück deshalb auch „Flumberg“.

Bild: Anna Gutbier, geb. Schneider

Karl wurde in Heiligenstadt groß. Er war also ein Stadt-Mensch, der nun zu Anna aufs Dorf zog. Landwirtschaftliche Arbeit kannte er nicht. Er war schon von seinem Vater gewohnt, dass man für den Lebensunterhalt als Arbeiter Geld verdient. Vermutlich hatten seine Eltern auch am Stadtrand einen Garten für ein wenig Obst und Gemüse. Aber Schweine und Hühner hatten sie bestimmt nicht. Als Eisenbahn-Arbeiter lebte er mit seiner ersten Frau ein ähnliches Leben in Heiligenstadt.

Jetzt war das anders. Auf Annas Hof gabe es Tiere, für die man das Futter das ganz Jahr über bereitstellen musste. Um die Tiere musste man sich täglich kümmern. Auch das Schlachten gehörte zum Ernähren der ganzen Familie. Karl liebte die landwirtschaftliche Arbeit gar nicht. Vermutlich war er ganz froh, sich als Eisenbahner diesen Arbeiten oft entziehen zu können.

Ein Jahr nach der Hochzeit wurde den beiden der Sohn Josef Gutbier am 27. Februar 1930 geboren.
Ein weiteres Jahr später, am 7. Oktober 1931, kam Karola Gutbier zur Welt.
Dann vergingen gut 5 Jahre bis ihr letzter Sohn Heinrich Gutbier am 8. März 1937 geboren wurde.

Ihr ältester Sohn Josef Gutbier arbeitete in Johanngeorgenstadt im Bergwerk. Er verunglückte dort im Oktober 1952 als er 22 Jahre alt war. Das war der dritte Todesfall von Karls insgesamt 7 Kindern! Und seine erste Frau hatte er ja auch verloren.
Die vier verbliebenen Kinder – Katharina, Martha, Karola und Heinrich – haben ihn aber glücklicherweise alle überlebt.

Josef Gutbier verunglückte im Bergwerk mit 22 Jahren.

Die Kinder verlassen ihr Zuhause

1949 flüchtet Tochter Martha über die Zonen-Grenze in ein westdeutsches Kloster. Hier berichtet sie über ihre fast misglückte Flucht.
1950 heiratet Tochter Katharina und zog nach Berlin.
Diese Hochzeit war für den erzkatholischen Karl Gutbier eigentlich nicht denkbar: Katharinas Mann war evangelisch, das konnte er nicht zulassen, wenn der nicht katholisch würde. Erst nach einem Gespräch mit einem Probst aus Heiligenstadt gab er unwillig seine Zustimmung.
1952 stirbt Sohn Josef im Bergwerk im Erzgebrige.
1955 geht Sohn Heinrich als Tischler auch über die Grenze nach Kamp-Lintfort. Er kommt aber nach 2 Jahren wieder zurück, und wohnt wieder im Haus seiner Eltern. (Auch später noch mit seiner Frau Ingeburg.)
1959 heiratet Tochter Karola und zieht nach Heiligenstadt.

Karl Gutbier mit Enkel

Enkel erinnern sich an Opa Karl

52 Jahre nach seinem Tod finden sich nur noch wenige, die von ihm berichten können. Die Enkelinnen Karin und Ute berichten von ihren Erinnerungen:

Karin: „Opa hat immer gewartet, wenn ich aus der Schule kam, dass ich mit ihm Halma gespielt habe – oder Dame. Das hat er so gerne gespielt.“

Karin: „Ich hab ganz viel mit Opa gespielt. Ja und dann hab ich immer zugeguckt, wenn er sich die Beine eingewickelt hat“.

Ute: „Das weiß ich auch noch. Der Geruch der Salbe ist heute noch in dem Schränkchen unten gewesen.“

Karin: „Der hatte so dicke Löcher in den Beinen, er hatte immer ein offenes Bein, hatte sich immer mit Salbe vollgeschmiert und dann die Beine umwickelt. Das war jeden Morgen sein Ritual.“
(Karl Gutbier hatte sich irgendwann eine nicht zuheilende Wunde am Schienbein zugezogen, die er täglich salben und verbinden musste.)

Ute: „Ja, Opa war nicht so gesund. Opa war so dünn, der hatte immer Hosenträger an, weil die Hose sonst nie gehalten hätte. Du konntest oben rein und unten raus schauen, so dünn war unser Opa. So kann ich mich noch an Opa erinnern.“

Ute: „Und Opa hat immer wenn es Kaffee gab, so Malz-Kaffee – weiß ich auch noch genau – ein Zwieback oder Brot rein gedrückt. Also Brot und Zucker und Malzkaffee, das war so Opas Hauptnahrung. Oder Eier roh „geklippert“ und Brot rein.“ 

Karin: „Opa konnte meine Freundin nicht leiden. Der konnte Gisela Kunkel nicht leiden, überhaupt nicht. Wenn die vorne rein kam, und sie sah ihn, dann ging’s gleich wieder hinten raus.“
Karin: „Opa war nicht einfach. Oma war war eine richtig liebe. Und Opa war nicht so einfach, Opa konnte auch sehr, sehr knatzig sein.“

Ute: „Manchmal war er zu unserer Oma – empfanden wir – ein bisschen laut.“

Karin: „Zu Mutti am Anfang auch. Bis Mutti dann mal mit ihm richtig aneinander gerappelt ist. Und dann hat er zu ihr gesagt: Na endlich sagt mir mal einer die Meinung. Endlich hat mal einer den Stock in der Hose und sag mir mal die Meinung.“

Ute: „Es war ja auch nicht einfach. Die hatten ja damals kein Badezimmer, nichts. Die hatten wohl nur ein Waschbecken. Und das war wohl in Muttis und Papas Küche – oder in dem Raum, was Mutti und Papa hatten. Und wenn ich mich abends oder früh fertig machen wollte – es war nicht so leicht mit Opa – ne, da war einfach so wenig Platz.“

Ute: „Und dann, was hat Papa uns immer erzählt? Die kalte Pracht, dieses große Zimmer. Das war ja früher ein Wohnzimmer. Die hatten kaum Platz, aber dieser riesengroße Raum stand leer. So war das damals. Und oben haben sie mit zig Leuten in einem Raum geschlafen, und dieser Raum war immer leer.“

Karin: „Bis sie dann mal den Vorhang dazwischen gemacht haben, den Raum abgeteilt haben, so dass wir oben unser Schlafzimmer hatten für uns. Vorher haben wir bei meinen Eltern Im Bett gelegen, oder auf dem Fußboden mit der Matratze. Hm, das weiß ich noch.“

Karin: „Hinter den Vorhang haben sie sich dann die Betten gestellt. Und vorne war dann das kleine Wohnzimmer. Und so konnten wir dann oben in dem Kinderzimmer schlafen.“

Ute: „Aber in dem Wohnzimmer war ja nie wer drin, die waren ja nur immer in der Küche.“

Karin: „Oma hat den Garten gemacht, und auch meistens, die Tiere gefüttert, die Schweine gefüttert. Also Tiere, das war Omas Welt, da hat sich Opa gar nicht drum gekümmert. Stimmt, das wollte Opa gar nicht. Nein, Opa war auch kein Freund, vom Draussen-Arbeiten. Opa war auch kein Handwerker, wollen wir das mal so sagen.“

Karin: „Opa Karl war absoluter Vogel-Fanatiker. Na klar, ich bin mit ihm ja sogar losgezogen. Er hatte hier – oberhalb der Bahn-Schienen die Vogel Kästen aufgehangen. Und wir sind dann los, Opa und ich und haben geguckt, ob sich ein Vogel gefangen hat. Ich bin viel mit Opa unterwegs gewesen wegen Vögeln.“

Die gefangenen Vögel hat Karl Gutbier dann in zwei bis drei Vogelbauern gehalten, um sie täglich beobachten zu können. Die standen oben auf dem Küchenschrank. Er fing Finken, Stieglitze (auch Distelfink genannt), Zeisige und Hänflinge. Er hörte den Vögeln gern zu.

Karl Gutbier stirbt mit 76 Jahren

Am 17.Oktober 1972 stirbt Karl Gutbier in Bodenrode.
Seine Frau Anna Gutbier überlebt ihn noch 13 Jahre.

Bild: Karl Gutbier

Weitere Informationen zu Karl Gutbier

Podcast: Oma Anna und Opa Karl aus der Sicht zweier Enkelinnen.

Die Vorfahren der Gutbier-Familie

Hier die Darstellung der Vorfahren der ganzen Gutbier-Familie in 6 Grafiken dargestellt. Um es noch lesbar zu halten, war die Aufteilung auf verschiedene Seiten nötig:

Um die Grafik in Ruhe anzuschauen, klick auf die drei Punkte und dann auf „Vollbildmodus“.